Im Juli 2003 starb Torsten Heydel. Er wurde 16 Jahre alt.
Im Juli 2003 waren meine Familie und ich in Italien zum Sommerurlaub. Als wir wieder nach Hause kamen, lag ein riesiger Stapel Zeitungen auf unserem Küchentisch. So war das immer. Wenn wir aus dem Urlaub kamen, lag alles in der Küche, was mein Großvater die letzten Wochen für uns entgegengenommen hatte. Und jedes Mal war es das selbe Ritual. Ich blätterte die Zeitungen durch und sah mir die größten Überschriften und die buntesten Bilder an, um das Verpasste möglichst schnell nachzuholen. Meine Mutter tat das gleiche und plötzlich sagte sie: „Ach du Scheiße, der Torsten!“ „Welcher Torsten?“ fragte ich.
Und dann erzählte sie mir von Michi, dem Jungen, der so alt ist wie mein Bruder, vierzehn. Beide spielten noch vor einem Jahr zusammen Fußball beim FSV Zwickau. Und Michi ist der kleine Bruder von Torsten. War der kleine Bruder von Torsten, denn wenn der eigene Bruder stirbt, ist man doch auch selbst nicht mehr Bruder, oder? Ich weiß es nicht. Jedenfalls kannten meine Eltern Torsten genau, weil er immer mit beim Training war und oft im Tor stand, denn er spielte selber Fußball, beim SV Cainsdorf. Ich war zwar auch einige Male bei Fußballspielen meines Bruders dabei gewesen, aber ein Torsten war mir nie begegnet, jedenfalls nicht aufgefallen.
Nach wenigen Tagen hatte ich die ganze Geschichte schon wieder vergessen und kein Mensch erinnerte mich mehr daran. Es kam der November. Totensonntag. Da geht unsere gesamte Familie immer auf den Hauptfriedhof und dann zünden wir ein paar Kerzen an. Das ist so was wie vorweihnachtliche Tradition. Und plötzlich bleibt meine Mutter vor einem der zahlreichen Gräber stehen und sagt: „Ach du Scheiße, der Torsten!“ Diesen Satz kennst du doch, dachte ich mir. Das Grab war übersät mit Blumen und Kränzen und ein Foto stand auch dort. Ein lächelndes Gesicht, das ich noch nie gesehen hatte. Meine Augen füllten sich mit Tränen, als ich mir ausrechnete, wie alt er geworden war. Ich weinte um einen Jungen, den ich überhaupt nicht kannte. Und dann fühlte ich mich plötzlich glücklich. Irgendwie bekam ich einen unheimlichen Energieschub. Ich bin nicht religiös und glaube auch sonst nicht an Übersinnliches, aber das war schon ein atemberaubendes Gefühl, wie ich es noch nie erlebt hatte. Auf dem Grab war auch ein Brief, auf dem standen ein paar schöne Zeilen, signiert von Marie. Und ich schaute mir die Schrift genauer an. Die Marie? Ich rief Marie an und fragte, ob sie den Brief geschrieben hätte und so erzählte sie mir von Torsten. Nun sollte ich durch sie Torsten näher kennen lernen. Er hatte im Sommer seinen Motorrad-Führerschein gemacht und war sehr stolz auf das Motorrad, das er von seinen Eltern geschenkt bekommen hatte. Nachdem er vom Gymnasium, das Marie und ich besuchten, abgegangen war und alle seine Prüfungen für den 10.-Klasse-Abschluss mit sehr gut bestanden hatte, war er am Tag seiner letzten Prüfung mit zwei Freunden unterwegs. Sie standen auf dem Gehweg vorm Zwickauer Fußballstadion. Torsten saß mit dem Rücken zur Straße auf seinem Motorrad, die anderen beiden Jungs standen daneben. Eine Autofahrerin kam mit ihrem kleinen Nissan angefahren. Sie hatte an der Kreuzung bei Rot auf der Rechtsabbiegerspur gehalten. Als die Ampel umschaltete, fuhr sie einfach geradeaus. Sie verlor einen kurzen Moment die Kontrolle über sich und das Fahrzeug und steuerte auf den Gehweg und die drei Jungs zu. In der Gerichtsverhandlung wurde die ganze Angelegenheit mit dem magischen Wort Sekundenschlaf bezeichnet. Die beiden Freunde konnten zur Seite springen, ihnen passierte nichts, Torsten saß auf seinem Motorrad und konnte nichts mehr machen. Er hatte das Auto nicht auf sich zukommen sehen. Er wurde erfasst, hochgeschleudert und vom Auto gegen einen Ampelmast gedrückte. Im Krankenhaus Zwickau fiel er ins Koma. Er wurde nach Leipzig geflogen. Dort nahmen ihm die Ärzte ein Bein ab. Für einen Fußballer, das wohl Schlimmste, was einem passieren kann. Nach 19 Tagen starb Torsten.
Anfang Dezember erfuhr ich durch Zufall, dass unsere Nachbarin den Unfall verursacht hatte. Jetzt war die ganze Geschichte ganz nah an mich rangerückt. Am Anfang war es nur eine Anzeige in der Zeitung, über irgendjemand da draußen, den es jetzt nicht mehr gibt. Und innerhalb von wenigen Monaten wurde das Ganze immer engmaschiger. Ich musste jetzt immer öfter an Torsten denken. Wenn ich auf sein Klassenfoto in unserem Jahrbuch schaue, kenne ich jedes Gesicht, jeden Schüler und jede Schülerin, aber ihn kenne ich nicht.
Also habe ich mir vorgenommen, etwas Besonderes zu machen, um die Erinnerung an ihn wach zu halten. Und so will ich einen Film drehen, der vordergründig (inhaltlich) nichts mit Torsten zu tun haben soll. Aber es wird eine Geschichte über die Erinnerung sein. Gästebucheintrag von Torstens Familie am 15. Juli 2005 Lieber Erik, es ist für uns sehr schwer, die richtigen Worte zu finden. Aber gerade heute - am 2. Todestag unseres Sohnes und Bruders Torsten - finden wir, ist genau der richtige Zeitpunkt, um Dir, lieber Erik und dem gesamten Team, welches an der Entstehung des Filmes secundenschlaf mitwirkte, von tiefstem Herzen DANKE zu sagen. Wir möchten Dir dafür danken, dass Du das Thema Fühlen, Empfinden, ja vor allem Erinnerungen aufgegriffen und so gut rübergebracht hast. Es soll in Deinem Film nicht um Begreifen oder Kapieren gehen und das ist auch richtig so. Denn man kann es wohl niemals begreifen. Das WARUM wird für uns immer ein Fragewort bleiben. Es gibt einfach keine Antwort darauf. Begreifen und kapieren können wir es bis heute nicht.
In der Todesanzeige von Torsten haben wir bewusst geschrieben: "Und immer wieder sind da Spuren Deines Lebens, Bilder, Augenblicke, Gefühle, die uns wissen lassen, dass Du bei uns bist."
Lieber Erik, genau diesen Punkt hast Du getroffen und die Schauspieler haben dies ganz toll umgesetzt. Es geht in unserer Familie darum, wie können wir mit unserem Torsten gemeinsam weiterleben. Es geht eben nur noch durch Gefühle, Erinnerungen und mit unserer gemeinsamen Liebe, die uns keiner auf der Welt nehmen kann.
Als Außenstehender des Geschehnisses hast Du Dein Herz sprechen lassen, hast Dich für das Schicksal von Torsten interessiert und letztendlich identifiziert. Dies hat nicht mal die Verursacherin getan. Hier fragen wir uns bis heute, wo sind die Gefühle mancher Menschen, können Sie nicht einfach dazu stehen, wo sie die Schuld tragen?
Von uns sind die Erfolge, welche Du bzw. Ihr damit erzielt habt, von Herzen gegönnt, denn die Erinnerungen an einen Menschen - unseren Torsten - wach zu halten, ist die schönste Geste!
Wie wahr sind Schillers Worte: "Das schönste Denkmal, was ein Mensch bekommen kann, steht in den Herzen seiner Mitmenschen."
Du hast mit Deinem Team für unseren Torsten so ein Denkmal gesetzt. Hab Dank!!! Erik, mach weiter so! Wir wünschen Dir viel Erfolg, vor allem die Gesundheit dazu und bleibe Dir treu! Liebe Grüße von Silvia, Armin und Michael |